Der Leichtathletik-Weltverband IAAF – oh sorry, World Athletics natürlich – kommt einfach nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus. Zuerst der Doping-Skandal um Russland, der Fall Caster Semenya und nun schließlich die Technik-Doping-Vorwürfe gegen Nike.
Als Eliud Kipchoge letzten Oktober als erster Mann in der Geschichte den Marathon unter zwei Stunden lief, hatte das nicht nur begeisterte Reaktionen zur Folge. Dies lag an den Laborbedingungen, unter welchen diese historische Leistung entstand. Dass dieser Lauf niemals als Weltrekord anerkannt werden würde, stand jedoch bereits vorher fest. Grund hierfür waren nicht nur die Streckenführung und die 41 abwechselnden Tempomacher, sondern auch die Wahl der Schuhe. Kipchoge trug nämlich mit dem Nike Air Zoom Alphafly NEXT% eine bis heute nicht auf dem Markt verfügbare Weiterentwicklung der ZoomX Vaporfly Next%-Serie. Zusammen mit dem Vorgängermodell Vaporfly 4%, mit dem er bereits im Oktober 2018 den offiziellen Marathon-Weltrekord brach, bilden diese Schuhe nun den Stein des Anstoßes in der Debatte um Technik-Doping in der Leichtathletik.
Seit Einführung dieser Nike-Modelle im Jahr 2016 purzeln die persönlichen Bestleistungen und Rekorde auf der Straße sowie der Bahn. Hierzu ein paar Fakten: einen Tag nach der sogenannten „Ineos 1:59 Challenge“ pulverisierte Brigid Kosgei beim Chicago-Marathon den 16 Jahre alten Weltrekord von Paula Radcliffe um 81 Sekunden und unterbot ihre eigene Bestleistung sogar um mehr als vier Minuten. Dabei trug sie ebenfalls einen Prototyp aus der Alphafly-Serie. Mit Vaporfly-Modellen waren dagegen die gesamte Top 10 der Männerkonkurrenz unterwegs. Überhaupt sind die fünfschnellsten Zeiten im Herren-Marathon in den letzten 13 Monaten von Athleten in Vaporfly-Modellen oder deren Weiterentwicklung gelaufen worden. Dies gilt ebenso für die 31 der 36 Podestplätze in den sechs zu den World Marathon Majors gehörenden Rennen. Bereits 2016 wurden die ersten drei Plätze beim Olympia-Marathon in diesen Schuhen errungen. Die Liste ist endlos.
Technik-Doping bei Nike?
Das Gefühl, wie auf einem Trampolin zu laufen – so beschreibt es der US-amerikanische Läufer Jake Riley nach dem Chicago Marathon. Dies kommt der Realität ziemlich nahe. Die Nike-Modelle bestechen durch eine dicke hintere Sohle, welche aus dem sogenannten ZoomX-Schaumstoff besteht, und verfügen über mindestens eine durchgehende Karbonfaserplatte, die wie eine Springfeder funktioniert. Bei den Alphafly-Modellen von Kosgei und Kipchoge treibt es Nike dabei auf die Spitze: nicht nur ist die Sohle noch dicker, sie haben darüber hinaus noch zwei zusätzliche Luftkissen im vorderen Teil der Sohle. Das hat eine enorme Kraftersparnis zur Folge. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie, die 2017 in der Fachzeitschrift „Sports Medicine“ veröffentlicht wurde. Danach verbesserte sich die Laufökonomie in Vaporflys um rund vier Prozent im Vergleich zu anderen beliebten Laufschuhen. In einer Sportart, bei der es um jede hundertstel Sekunde geht, sind dies bedeutende Unterschiede. Die „New York Times“ kam bei ihrer letztjährigen Untersuchung von rund einer Millionen Rennen – Halbmarathons und Marathons – zu einem ähnlichen Resultat. Demnach gingen 41 Prozent der Sub-3 Stunden-Ergebnisse auf das Konto von Läufer*innen, die sich entweder für die herkömmlichen Vaporfly 4% oder die Vaporfly Next%-Modelle entschieden.
Diese auffälligen Leistungssprünge, aber auch die Erfolgsserie von Nike-Athlet*innen sorgt für Kritik sowohl aus Sportler*innen- als auch Wissenschaftskreisen. Nike wird Technik-Doping vorgeworfen – also die Steigerung der Leistung durch technische Hilfsmittel – und das ausgerechnet in einer Sportart, in der der Körper im Mittelpunkt der Leistung stehen sollte. Eine Läuferin, die diese Diskussion Anfang Januar aus Athletensicht befeuerte, war Kara Goucher, die bereits 2015 als Whistleblowerin den Doping-Prozess gegen das Nike Oregon Projekt ins Rollen brachte. In einem Interview mit dem „Forbes Magazine“ bezeichnete sie sich selbst als wohl erste Athletin, die die Olympischen Spiele aufgrund der falschen Schuhwahl verpasste. Bei der nationalen Olympia-Qualifikation 2016 im Marathon belegte sie nur den vierten Platz – hinter den beiden Nike-Athletinnen Shalane Flanagan und Amy Cragg in Vaporflys sowie Des Linden. Nike streitet diese Vorwürfe natürlich ab. Die Schuhe würden nur für eine Kraftersparnis bei den Athlet*innen sorgen und nicht, wie bei Doping üblich, Energie hinzuführen.
Erinnerung an die Weltrekord-Ära im Schwimmen
Die Diskussion führen jedoch nicht nur „altmodische“ Puristen, die gegen jeglichen technischen Fortschritt sind und Läufer*innen am liebsten barfuß sehen wollen würden. Es wird auch der fehlende gleichberechtigte Zugang zu den Nike-Schuhen bemängelt. So sind Prototypen wie der Nike Air Zoom Alphafly NEXT% nur einem ausgewählten Kreis um Nike-Athlet*innen wie Kosgei oder Kipchoge vorbehalten – davon mal abgesehen, dass dieses Modell noch gar nicht mal offiziell auf dem Markt ist. Doch auch andere Sportartikelhersteller holen auf. Joyciline Jepkosgei, die Weltrekordlerin über die Halbmarathon-Strecke, blieb bei ihrem Marathon-Debüt im November 2019 in New York nur sieben Sekunden über dem Streckenrekord – auch dank des neuen Adidas-Schuhs adizero Pro, welcher als direkte Reaktion auf die Nike-Modelle zu verstehen ist. Auch der Weltrekord auf der 10-Kilometer-Strecke vom Januar 2020 geht auf Adidas‘ Konto. Dennoch fällt es anderen Sportausstattern im Wettlauf um den besten Schuh schwer, aufgrund der großen Anzahl von Nike-Patenten ein adäquates Konkurrenzprodukt auf den Markt zu bringen.
Diese Materialschlacht erinnert an eine Zeit im Schwimmsport, als Speedo vor knapp zehn Jahren ebenfalls textiles bzw. Technik-Doping vorgeworfen wurde. Damals waren Ganzkörperschwimmanzüge en vogue, vorzugsweise Speedos LZR Racer, welcher die Haut von Haien imitieren und somit unter anderem die Durchblutung der Muskeln fördern sollte. Eine Flut von Weltrekorden zwischen 2008 und 2010 war die Folge: allein im ersten Monat nach der Einführung des Anzugs Anfang 2008 fielen 13 Weltrekorde, bis zum Verbot durch die FINA 2010 sollten es noch 130 werden. 98 Prozent aller bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking gewonnenen Medaillen wurden mit dem LZR Racer. Wie nun im Fall der Nike-Schuhe regte sich Unmut unter den Schwimmer*innen, die keinen Zugang zu den Wunderanzügen hatten – entweder weil sie durch Verträge an andere Sponsoren gebunden waren oder weil sie sich die 550 US-Dollar für einen Anzug, den man nur ungefähr zehnmal tragen konnte, einfach nicht leisten konnten oder wollten. Dies und die darauffolgende Materialschlacht zwischen den Sportausstattern sorgte nach reichlich Zögern auf Seite der FINA für ein endgültiges Verbot 2010.
Forderung nach einem Verbot
Solch ein Verbot fordern nun auch die Gegner der Nike-Schuhe vom Leichtathletik-Weltverband. Dieser reagierte zwar nicht so drastisch wie die FINA, stellte aber Ende Januar zumindest neue Regularien auf. So dürfen die Sohlen von nun an nicht mehr dicker als 40 Millimeter sein, bei sogenannten Spikes sogar nur 30 Millimeter. Außerdem ist nur noch eine Karbonfaserplatte im Schuh erlaubt. Der wichtigste Punkt betrifft jedoch die Verfügbarkeit des Schuhs. So müssen alle Schuhe, die im Wettkampf getragen werden, bereits mindestens vier Monate im Handel erhältlich gewesen sein. Diese Regel tritt am 30.04.2020 in Kraft, also pünktlich zu den Olympischen Spielen im August. Zufällig erfüllen Nikes Schuhe all diese Kriterien, allen voran deren neues Modell, der Air Zoom Alphafly NEXT%: er kommt nicht nur passenderweise im März auf dem Markt, sondern er entspricht mit einer Sohlendicke von 39,5 Millimeter gerade so den neuen Regularien. Diese für Nike glückliche Fügung und deren enge Geschäftsbeziehung zum World Athletics-Präsidenten Sebastian Coe veranlasst viele Kritiker, an der Neutralität des Weltverbandes zu zweifeln.
Ob diese neuen technischen Weiterentwicklungen der Schuhe nun als Technik-Doping zu bezeichnen sind oder auch nicht, es lassen sich auf jeden Fall Parallelen zum „herkömmlichen“ Doping ziehen. Leistungen werden hinterfragt, der erste Blick ist inzwischen immer erst der auf die Schuhe und der Zweifel läuft immer mit. So auch in der aktuellen Hallensaison, die in vollem Gange ist. Die Schottin Jemma Reekie bricht auf der Mittelstrecke Rekord nach Rekord und steigerte ihre persönlichen Bestzeiten jeweils um einige Sekunden. Bisher ein No Name im Seniorenbereich werden Zweifel laut, ob ihre enorme Leistungssteigerung nur auf ihr ohne Frage großes Talent zurückzuführen ist oder ob nicht auch ihre Schuhe, ebenfalls ein Prototyp von Nike, einen erheblichen Anteil daran haben. Das gleiche gilt für die US-Amerikanerin Elle Purrier, die im New Balance FuelCell 5280 ihre persönliche Bestleistung über die Meile um acht Sekunden verbesserte und damit den 37 Jahre alten US-amerikanischen Hallenrekord verbesserte.
Befürworter der neuen Modelle verweisen auf technische Weiterentwicklungen wie etwa die Einführung der Kunststoffbahn, welche ebenfalls zu Leistungssteigerungen führten. Diese Veränderungen galten damals jedoch für alle Athlet*innen gleichermaßen. Ob dies hier der Fall ist, bleibt fraglich. Eins steht nur fest: sollte der Leichtathletik-Weltverband nicht härter durchgreifen oder für Bedingungen für alle sorgen, wird der Verdacht des Technik-Dopings in Hinblick auf die Olympischen Spiele in Tokio bei jeder Topleistung der Elefant im Raum sein.